Felix Gottlieb

Felix Gottlieb

Gilels’ Schüler wurde ich im Jahre 1963.
Ist es nötig, die Aufregung zu erwähnen, mit der ich einige Monate vor den Aufnahmeprüfungen über die Schwelle seiner Wohnung trat, den wundervollen Steinway berührte, auf dem ich, gleichzeitig unglücklich und glücklich, mein Programm spielen sollte? Da er meine Gemütsverfassung spürte, ließ Emil Grigorjewitsch mich in dem Zimmer allein und nach einigen Minuten kam ich zu mir. Danach kehrte er zurück, hörte sich geduldig das ganze Programm an, setzte sich an den zweiten Flügel – und da erschienen mir ganz nah (nie hörte ich auf, davon begeistert zu sein und nie habe ich mich daran gewöhnt) Gilels’ Hände auf den Tasten! Nein, ich spreche nicht von der normalen Fähigkeit eines Pianisten, die die meisten Interpreten besitzen, sich mehr oder weniger leicht an einen Flügel anzupassen. Ich spreche von der verblüffenden Einheit, die diese erstaunlichen Hände mit den Tasten bildeten, über die einzigartige Verschmelzung dieses Menschen mit dem Instrument; etwas Ähnliches habe ich erst viel später beobachtet, als ich einem anderen großen Künstler begegnete – David Fjodorowitsch Ojstrach. Es ist unmöglich, sich Gilels’ Finger vorzustellen, wie sie einen Bogen oder einen Taktstock halten, ihre vollkommene Abrundung erhielten sie nur durch die Berührung von Tasten.

Damals gab mir Emil Grigorjewitsch auch die Noten einer soeben von Rodion Schtschedrin geschriebenen Sonate, dazu sagte er: „Schtschedrin ist ein wunderbarer Pianist; mir scheint, die Sonate ist interessant, nimm sie in das Programm für das Examen auf.“ Es war meine erste Erfahrung mit der Arbeit an einem Werk, das noch in keiner Interpretation zu hören war, und es hat mir später einen guten Dienst geleistet (im April 1963 spielte ich die Sonate in einem Solo-Recital).

Insgesamt habe ich ein Jahr bei Gilels studiert (im Jahr 1964 schied Emil Grigorjewitsch aus dem Konservatorium aus und ich wechselte auf seine Empfehlung in die Klasse Theodor Davidowitsch Gutmans, den er als Lehrer wie als Musiker sehr schätzte). Wahrscheinlich sollte ich die Autoren und Werke aufzählen, die in dieser kurzen Zeit erarbeitet wurden, mich an seine Bemerkungen, Forderungen, Wünsche erinnern, die er im Lauf der Arbeit zu dem einen oder anderen Werk geäußert hatte, von irgendeinem interessanten Klavier-Griff erzählen, der von ihm erklärt oder von mir abgeschaut wurde… Aber in meinem Herzen und in der Erinnerung ist vor allem die Ungeduld lebendig, mit der ich jede Unterrichtsstunde erwartete, die Bewegung, mit der ich zu ihm ging und das Zittern, das ich in der Gegenwart von Emil Grigorjewitsch nie ablegen konnte.

Ich erinnere mich, wie er sich freute, als ich – ich hatte gerade das Programm für das bevorstehende Unterrichtsjahr erhalten – mir ein Konzert von Mozart erbat; und ich erinnere mich an seine heftig negative Reaktion, als ich gegen Ende des ersten Kurses die Vorbereitung zur Auslese für den internationalen Wettbewerb erwähnte, – er gab mir eindeutig zu verstehen, dass die Initiative in dieser Frage vom Lehrer ausgehen müsse und nicht vom Schüler.

Einmal erzählte ich Emil Grigorjewitsch von irgendwelchen Unannehmlichkeiten. Er sagte: „Setz dich an den Flügel und beschäftige dich – das ist die beste Medizin gegen alle Übel“, – und dies wurde das Einzige, was mir in meinem ganzen Leben wirklich geholfen hat und hilft.

Wenn Emil Grigorjewitsch mit seinen Schülern arbeitete, setzte er sich oft an das Instrument, und dann verblassten alle Worte neben dem wundervollen, verzaubernden Klang des Flügels, wie er nur Gilels zu eigen war! Dieser Klang war nicht das Ergebnis seiner seltenen Meisterschaft, sondern einer höheren und schönsten Verkörperung des Wesens seiner Seele. Wirklich, niemals und bei niemandem wird ein Flügel so klingen.

Ein Schüler Gilels’ zu sein, bedeutete, dass einem das Schicksal das seltene Glück gewährte, mit einem Musiker Umgang zu haben, der eine unschätzbare künstlerische Erfahrung besaß, die auf einer grenzenlosen, leidenschaftlichen Liebe zur Musik und zum Flügel basierte. Sein Erscheinen auf der Bühne strahlte Würde aus, Ruhe und Energie in jedem Schritt von den Kulissen zum Flügel, sein Blick in den Saal, der dem ersten Klang vorausging – und es entstand eine Atmosphäre von Bedeutsamkeit und höchster Spannung, die im Verlauf des ganzen Abends nicht nachließ.

Mir scheint es zutiefst symbolisch, dass nach dem Willen des Schicksals das letzte Werk, das Gilels in seinem letzten Konzert spielte, die 29. Sonate von Beethoven war, von der Busoni sagte, dass „…das Leben zu kurz ist, um die Hammerklavier-Sonate zu spielen“. Gilels’ Interpretation von op. 106 wurde zur höchsten Stufe der Interpretation dieser beispiellosen Sonate, sie war Resultat und Höhepunkt des ehrlichen und kompromisslosen Weges eines großen Künstlers, der Emil Gilels war und immer bleiben wird.

Moskau, 1986

Grigori Gordon Oxana Jablonskaja