Waleri Afanassjew: Stille
			Se taire et écouter, pas un être sur cent nen est capable, ne 
			conçoit même ce que cela signifie. Cest pourtant alors quon distingue, 
			au del de labsurde fracas, le silence dont lunivers est fait. 
			Samuel Beckett, Molloy
Not one person in a hundred knows how to be silent and listen, no, nor even to conceive what such a thing means. Yes, only then can you detect, beyond the fatuous clamour, the silence of which the universe is made.
Samuel Beckett, Molloy
(Translated from the Russian by the author)
Heutzutage ist Stille zu einem seltenen Phänomen geworden, die sich energetisch über die Geräusche von unterschiedlichen Maschinen, Maschinengewehren oder dem Geschnatter menschlicher Stimmen legt. Stille liegt außerhalb unserer Reichweite, da wir vergessen haben, wie wir ihr zuhören können. Als ob man sie beiseite schieben würde, füllen wir die Pausen, die hier und da entstehen, mit etwas aus; Stille verschwindet in sich selbst, um uns für unsere Verachtung zu schelten. Die Instrumentalisten, die nach hohen Tempi streben, scheinen die Abwesenheit von Tönen aufzugreifen. Die gesamte Zeit, in der sie ihre Finger bewegen oder vokale Akkorde spielen, um die Kluft zur Realität zu schließen, wo die Grundlage der Musik liegt, bleibt ein ewiges Geheimnis. Ich sage oft, dass Stille die Grundlage von Musik ist. Kürzlich fand ich einen ähnlichen Gedanken in der Arbeit eines Schriftstellers, der unter die von mir üblicherweise gelesenen Autoren gehört: Francois Mauriac. Ich war über das Letztendliche nicht erstaunt: Meine Idee ist absolut banal. Ich bin ziemlich überrascht, dass Musiker es nicht in jedem Interview erwähnen. Alles, was man machen muss, ist, sich gegen jegliches Geräusch zu schützen, ohne dabei sich selbst und der einen umgebenden Welt zuzuhören. Und plötzlich entsteht daraus Musik.
Wie niemand anderes wusste Emil Grigorievich Stille zu gestalten 
			und zu handhaben. Selbst seine Art des Sprechens stellte eine Untermauerung 
			dieses Wissens dar. Immer wieder unterbrach er seine Rede, um den Leuten, 
			die ihm zuhörten, die Gelegenheit zu geben, über das Gesagte zu reflektieren, 
			und um der Stille zu lauschen. Er sprach nicht nur über Musik, sondern 
			Musik sprach aus seiner Rede, seinen Umgangsformen, seinen Gedanken; 
			und sie verließ ihn niemals, nicht für einen Moment, um seiner Liebe 
			zu antworten. Selbst in seinen Witzen konnte man Musik hören – etwas 
			Ähnliches wie die Technik „perle”, die eine seiner unzähligen Stärken 
			war.
Nach meinem japanischen Freund gab es keinen Pianisten, den 
			man mit Emil Grigorievich in der uns bekannten Geschichte vergleichen 
			konnte. Tatsächlich ist es nicht schwer, zu diesem Ergebnis zu gelangen, 
			vergleicht man alle uns zugänglichen Aufnahmen von Gilels. Kein anderer 
			Pianist scheint solch eine Kontrolle über das Instrument gehabt zu haben, 
			ohne Unzulänglichkeiten und Schwachstellen. Einer der Giganten auf diesem 
			Gebiet, Arturo Benedetti Michelangeli, hatte nicht die dynamische Weite, 
			die vergleichbar gewesen wäre mit dem, was ich einmal im großen Saal 
			des Moskauer Konservatoriums gehört habe. An diesem Abend rundete Emil 
			Grigorievich das Programm mit Liszts „Spanischer Rhapsodie” ab. Ich 
			habe niemals solch ein Forte im Konservatorium oder irgendwo anders 
			gehört. Nicht einmal die Berliner Philharmoniker unter dem Dirigat von 
			Karajan brachten die Luft so mächtig zum Schwingen. Im Umgang mit dem 
			Pedal war Gilels einziger Gegner wiederum Michelangeli; und nur Rachmaninoffs 
			Aufnahmen eröffnen uns die innere Essenz der Rhythmik so unvergleichlich, 
			mit derselben Entschlossenheit. Aber, ich wiederhole es noch einmal, 
			kein Pianist hatte die Verfügungsgewalt all dieser Qualitäten: das raffinierte 
			Pedalspiel, eine unvergleichliche dynamische Weite, die beides gleichermaßen 
			einzuschließen schien, sechs Pianos und sechs Fortes, der göttliche 
			Klang, der kein Abbild in der Natur hat, das Erzählende, Oktaven, Triller. 
			Einmal fragte ich Emil Grigorievich, wie man Triller spiele. Er sagte, 
			man solle sie langsam spielen: Selbst in Trillern sollte man die Stille 
			hören können, ihre einfangende, unerschütterliche Präsenz. Die Art, 
			wie Emil Grigorievich das Instrument übte, zeigt ebenso seine intime 
			Verbindung mit der Stille. Im Gegensatz zu Richter, der dieselbe Passage 
			immer und immer wieder spielte, ließ er seine Nachbarn niemals wundern: 
			„Wird er jemals erschöpft zusammenbrechen?” Immer wenn ich vom Klavier 
			weggehe, um mich auf einem Sofa niederzulassen, um das Stück, das ich 
			erarbeite, mit dem inneren Ohr zu hören, erinnere ich mich an meinen 
			Lehrer, seine Eigenschaften und seine sonore Stille. Er lehrte mich 
			nicht nur Musik zu hören, sondern das Leben selbst; oder anders gesagt: 
			Er lehrte mich, Musik im Leben zu hören. Ich wünschte sagen zu können, 
			es gibt nichts anderes als Musik in der Welt. Sagen zu können, der Tod 
			ist Musik. Einige behaupten, dass Gilels vor allem ein Virtuose war. 
			Er war ein Virtuose in der höchsten und nobelsten Bedeutung dieses Begriffs, 
			anders mit allem Respekt – in jedem Aspekt, den es gibt – als die zeitgenössischen 
			virtuosen Pianisten, die nur schnell spielen und keine Ahnung davon 
			haben, wie das Instrument klingen sollte und wie man das Pedal benutzt. 
			Diese so genannten Virtuosen sind nicht mit vielen der Eigenschaften 
			ausgestattet, die ein virtuoses Spiel ausmachen. Und solange sie diese 
			Stille angreifen, sobald sie sich ans Klavier setzen – und zuvor, und 
			nachher – solange haben ihre schnellen Tempi keinen Effekt. Was diese 
			„spektakulären” Tempi abkühlt, ist der Klumpen der Anzahl an Noten, 
			die man mögen soll. Diese Pianisten hören nicht der Musik zu, die sie 
			spielen und hören konsequenterweise auch keine Stille in ihr. Man sollte 
			Gilels Aufnahme von Chopins Etüde f-Moll Op. 25 anhören, um zu lernen, 
			was Klavier-Zuhören bewirken kann, wenn es von einem großen Pianisten 
			demonstriert wird. Und was ist mit der Art, mit der er Mozart, Brahms 
			und Grieg zuhörte? Kann man, auf der Grundlage seiner Aufnahmen (und 
			Konzerte), feststellen, dass er der größte Musiker unter den Pianisten 
			war, umso mehr, wenn man der Liste seiner Komponisten noch Beethoven 
			hinzufügt?
Viele haben das Gefühl, dass Emil Grigorievich eine zurückhaltende, 
			eine unnatürliche Person war. Aber wie könnte ein Mensch, der so natürlich 
			spielt, sich als ein unnatürlicher im täglichen Leben herausstellen? 
			Warum sollte man sich Fremden überhaupt anvertrauen? Unsere ausschweifenden 
			Gespräche, die oftmals bis weit in die Nacht andauerten, bewiesen, dass 
			ich kein Fremder für ihn war. Beeinflusst die Musik die Art und den 
			Charakter von Menschen, die professionell in sie involviert sind? Vielleicht 
			nicht: Wagner ist ein besonderes Beispiel dafür, davor zurückzuschrecken, 
			in dem Leben eines Komponisten herumzuschnüffeln. Wenn man in Gilels 
			Leben hineintrat, konnte man sicher sein, dass man erstaunt war über 
			die Natürlichkeit im Alltag – als würde sein musikalischer Stil um ihn 
			herum kreisen. Viel kann man über seine Humanität sagen, aber ich halte 
			mich zurück, dies zu tun, aus Achtung seiner eigenen Zurückhaltung, 
			aufgrund seines Unwillens, seine Großzügigkeit in der Öffentlichkeit 
			vorzuzeigen.
Ich kann nur eine Geschichte wiederholen, die sein Schwiegersohn, 
			Peter Nikitenko, erzählte. Mehrmals im Jahr wies Emil Grigorievich Peter 
			an, Blumen auf die Grabsteine der auf dem Novodevichye-Friedhof in Moskau 
			begrabenen Komponisten zu legen. Ich kenne mehrere Menschen, die in 
			eine Stadt kommen, die sie niemals zuvor besucht haben, die erst einmal 
			auf den nächst gelegenen Friedhof eilen: Sie sind Grabstein-Sammler. 
			Aber diejenigen, die Friedhöfe hören können, ihre Stille und Musik, 
			sind unter diesen die seltenen.
Moskau, November 17, 2003