Rodion Shchedrin

Rodion Shchedrin

Schon seit meiner Kinderzeit war ich ein Verehrer von Gilels. Ich hörte ihn zum ersten Mal „live“, als ich in der Chor-Akademie lernte. Das war im Jahr 1947. Alexander Wassiljewitsch Sweschnikow leitete unsere Akademie. Er lud die größten Musiker ein, bei uns Konzerte zu geben: bei uns traten sowohl Iwan Koslowskij auf als auch Heinrich Neuhaus, Swjatoslaw Knuschewitzkij und Grigorij Ginzburg… Unter anderem war auch Emil Gilels bei uns. Natürlich kannte ich diesen Namen schon, ich hatte den Film „Sage von der sibirischen Erde“ gesehen (er spielte dort das Erste Klavierkonzert von Liszt), und uns Jungen gefiel es unheimlich gut, wenn er - mit dem rötlichen Haarschopf und diesen starken Händen - spielte. Er hatte bemerkenswerte Hände. Und wie er am Flügel saß! Es war zu sehen, dass er völlig in sich versunken war, jede Faser des Körpers, und er hielt sich so aristokratisch - ohne überflüssige Bewegungen; heute begehen viele Pianisten die Sünde, dass sie für das Publikum Grimassen schneiden - besser spielen sie dadurch nicht.

Wir lebten damals im Internat, und es gab dort keinen, der gleichgültig geblieben wäre! Gilels eroberte uns Jungen. Ich erinnere mich, dass er als Zugabe ein Werk spielte, das uns unbekannt war; es war der „Feuertanz“ von de Falla, und ich erinnere mich deutlich an diese rasenden Triller. Man muss sagen, dass das Gebäude der Schule sehr klein war, und der Chorsaal war genauso klein (heute ist bei den „neuen Russen“ die Diele oder einfach ein Küchenhinterzimmer so groß); wir saßen einige Meter von Gilels entfernt, und er verstand es, uns durch die Magie seiner Kunst zu erobern.

Dann drängten wir uns um ihn: - Emil Grigorjewitsch, was haben Sie am Schluss des Programms gespielt? - und ich hörte zum ersten Mal den Namen Manuel de Fallas. Denn wir waren in jener Zeit „auf Diät“ gesetzt, Herrscher im Kreml war damals der „Führer aller Völker“.

Noch eine Erinnerung. Für die Welt der Klavierkunst gewann mich Grigorij Dinor, der in der Chor-Akademie Klavierunterricht gab. Im Konservatorium studierte ich jedoch bei Jakob Flier. Technisch war ich wenig vorbereitet, ich spielte irgendetwas nach Gehör. Meine Kompositionen für Klavier ließen die Waagschale zu meinen Gunsten fallen. Flier nahm mich in seine Klasse auf! Das war ein großes Glück.

Er gab mir die „Ondine“ von Ravel auf. Ich brachte ihm zum ersten Mal die „Ondine“, und er sagt plötzlich zu mir: „Emil Gilels ist jetzt aus dem Ausland zurückgekommen und hat eine phantastische Schallplatte von Gieseking mitgebracht! Lassen wir alles liegen und fahren zu ihm!“ Aber Gieseking war für mich kein Begriff (Sie verstehen, es waren die 50er Jahre), und Gilels war für mich ein Olympier! Wir setzten uns in Fliers Auto, und ohne vorher anzurufen (Mobiltelefone gab es damals nicht) fuhren wir in die Gorkij-Straße 25/9. Gilels war nicht gerade begeistert - so überfallen zu werden und dann auch noch dazu ein Student aus dem Konservatorium - aber er war überaus liebenswürdig. Wir hörten die „Ondine“ zehnmal! Die ganze Zeit rätselten wir: gab es einen technischen Trick in diesem Glissando der linken Hand?
„Da gibt es keine ‚Chemie’“, sagte Gilels, setzte sich an die Flügel und zeigte, wie man dieses Glissando spielt. Auf mich machte es solchen Eindruck, dass ich mich an diesen Besuch bis heute erinnere.

Ich zog mit Maja Michajlowna Plissetzkaja im Jahre 1963 in das Haus in der Gorkij-Straße, in dem wir noch heute wohnen. Das „Haus der Arbeiter des Bolschoj-Theaters“ war die erste Wohn-Genossenschaft in Moskau und Gilels war bis zu seinem Tod der Präsident unserer Genossenschaft. Ich erinnere mich, und das war sehr rührend, wie Emil Grigorjewitsch mich anruft und sagt: „Können Sie mir einige Ihrer Partituren bringen? Ich möchte sie dem Dirigenten Sawallisch schicken“. Am nächsten Tag habe ich ihm meine Partituren übergeben.

Überhaupt war er mir, wie mir schien, gewogen. Als er auf den Vorsitz in der Jury des Tschaikowsky-Wettbewerbes verzichtete, rief er mich zu sich und schlug mir vor, den Vorsitz der Jury für die Pianisten zu übernehmen. Auch die Furzewa (zu jener Zeit Kultusministerin) versuchte mich zu überreden: „Gilels hat Sie empfohlen!“ Aber ich habe immer versucht, solche Wettbewerbe zu vermeiden: in einem Frühlingsmonat drei Wochen in Moskau zu sitzen, danach wird man verflucht, dass nicht jener den Preis erhalten hat. Das macht wenig Vergnügen…

Wie sich Gilels am Flügel verhielt, wie er auf die Bühne hinaustrat, liebte ich sehr. Maja Mi-chajlowna erinnerte er immer an einen Steinpilz - mit einer rötlich schimmernden Kappe, stark, ganz konzentriert, gesammelt.

Wägt man nach dem höchsten Standard ab, dann gibt es einen absoluten Gott - Horowitz. Mein Gott war Flier, weil er in der Klasse so genial spielte, dass ich das nicht vergessen kann! Er spielte mit neun Fingern: er hatte an einer Sehne einen Knoten, und dreizehn Jahre, bis man ihn operierte, trat er nicht auf der Bühne auf. Und - Gilels! Diese drei kann ich mit voller Überzeugung als Wale unter den Fischen bezeichnen.

Das Nachkriegs-Moskau war in zwei Lager gespalten: jenes, das „für Gilels“, und jenes das „für Richter“ war. Seit meinen Kinderjahren befand ich mich immer im Lager der Verehrer von Gilels und bin es bis heute geblieben. Nichts hat mich umgestimmt!

Aus einem Gespräch mit Felix Gottlieb.

München, 24.04.2006

© Felix Gottlieb

Zubin MehtaUriel Segal